Religiöse Abhängigkeit in konservativen Gruppen

von Michael Roos

 

Ein bisher vernünftiges, katholisch geprägtes Mädchen gerät in die Hände einer Sekte. Zuvor aufgeschlossene Jugendliche verkrampfen sich und landen in der Psychiatrie. Junge Frauen werden in ein Kloster geschickt, ohne wirklich berufen zu sein.

Gibt es Sekten in der katholischen Kirche? Katholisch – d.h. allumfassend zu sein – steht im Gegensatz zum Sektenwesen, und doch sind sektiererische Einflüsse auch in kirchlichen Gruppen nicht von vorneherein auszuschließen. Gerade in einer Zeit der spirituellen Krise müssen christliche Eltern mehr als früher darauf achten, welchem Umfeld sie ihre Kinder anvertrauen können und wo Gefahren lauern, die oft katastrophale Folgen für ein ganzes Leben haben. Die polemisch aufgeheizte Stimmung vieler Medien gegen katholisches Gedankengut schürt Ängste ohne konkrete Kriterien zur Unterscheidung der Geister aufzuzeigen Schlagworte wie konservativ, traditionalistisch oder fundamentalistisch helfen nicht viel weiter, wenn man dem eigentlichen Problem näher kommen will.

Wir finden viel Gutes in konservativen Gruppen. Junge und ältere Menschen bemühen sich um ein wirklich christliches Leben im Gebet und in der Tat. Diese positiven Ansätze müssen von der Kirche aufgegriffen werden. Zugleich aber dürfen die Verantwortlichen nicht zulassen, daß fanatische und kranke Einflüsse diese Gruppen innerlich durchsetzen.

In meinem Buch „Flucht von der Teufelsinsel“ wollte ich auf solche Gefahren hinweisen: „Für gut katholische Familien sind nicht die Mun- oder Bagwhan-Sekte gefährlich, sondern selbsternannte Seher und Propheten, die unter dem Deckmantel scheinbarer Frömmigkeit Menschen in ihren Bann ziehen, die vorher der katholischen Kirche stark verbunden waren.“[1]  Die Reaktionen darauf waren überraschend. Viele konservative Publikationen besprachen dieses „Sektenbuch“ nicht, obwohl sie andere Jugendbücher von mir vorgestellt hatten. Gläubige und Priester reagierten scharf. War es nur deshalb, weil schon der Begriff „Sekte“ wie ein Reizwort auf sie wirkte? Lag es an dem Tatsachenbericht über eine 21-jährige, die lange einer konservativen Jugendgruppe angehört hatte, bevor sie in eine Sekte geriet? Dort hieß es: „Möge dieser Bericht dazu beitragen, daß solche zwielichtigen Gestalten sich nicht mehr in gesunde katholische Bewegungen einschleichen können.“[2] Wurde hier ein wunder Punkt getroffen?

Drei wesentliche Gefahren führen in die religiöse Abhängigkeit, aus der es oft kein Entrinnen mehr gibt: Subjektivismus, Gehorsam, Angst.

Subjektivismus: Viele Christen finden heute in ihren Gemeinden keine Heimat mehr. Zahlreiche Privatoffenbarungen locken Gläubige in eine Welt scheinbarer Frömmigkeit.

Obwohl sich diese Gruppen oft als konservativ bezeichnen, stehen sie der katholischen Tradition in Wahrheit fern. „Wenn jemand papstreu und Marienverehrer ist, dann kann man sicher sein, daß hier der Teufel keine Macht hat“, wird häufig behauptet. Es gibt bestimmte Vorstellungen von dem, was „gut katholisch“ ist. Sind diese äußeren – in der Regel mit Kitsch umgebenen – Kennzeichen vorhanden, dann vertrauen die Gläubigen blind allem, was ihnen vorgetragen wird. Es hat wenig Sinn an den Verstand zu appellieren. „Die Muttergottes in X. sagt aber ...“ Wenn der Himmel etwas will, dann müssen alle Argumente weichen. Nicht mehr objektive Maßstäbe, sondern das subjektive Empfinden werden ausschlaggebend. Gefühle treten an die Stelle echter Überzeugung.

Es gibt genug Angebote, die Gier nach immer neuen und spektakulären Erlebnissen des Religiösen zu stillen. Mißbrauch der Hildegardmedizin, die Angst vor Besessenheit und zahllose Schauungen und Wallfahrtsorte bieten ein reiches Betätigungsfeld.

Gehorsam: Kennzeichen von Sekten ist der absolute Gehorsam. Eine marianische Gruppe definiert ihre Treue zum Papst so: „... ihm in allem unbedingt zu gehorchen. Diese Verpflichtung gilt auch gegenüber den Bischöfen und Priestern, die nicht im Widerspruch zu Rom leben. „ Nach katholischer Lehre gibt es dagegen nur einen verantworteten Gehorsam. Viele konservative Gläubige unterscheiden hier nicht. Sie berufen sich auf Heilige, die ihrem Seelenführer immer gehorchten anstatt ihrem Eigenwillen zu folgen. Der Eigenwille, so glauben sie nämlich, stimmt fast nie mit dem Willen Gottes überein. Natürlich muß es ein ihren Vorstellungen angepaßter Priester sein, dem sie sich anvertrauen. Haben sie einen gefunden, der bereit ist, ihr Leben in diesem Sinne zu regeln, dann kommt es vor, daß selbst unbedeutende Kleinigkeiten dem Seelenführer vorgelegt werden müssen. Dabei kann die Beziehung zum Beichtvater manchmal beängstigende Abhängigkeiten entstehen lassen.

Zuvor aufgeschlossene junge Menschen verkrampfen sich innerlich, lösen alte Freundschaften und werden unzugänglich für alles, was nicht hundertprozentig mit dem übereinstimmt, was sie als Wahrheit angenommen haben. Zeit für Erholung und sei es nur für das Lesen eines Krimis hat in ihrem Leben keinen Platz mehr. Übertriebenes Fasten und Schlafentzug, ja selbst mittelalterliche Bußübungen treiben diese Menschen langsam in den Ruin.

Auf ihr Umfeld wirken solche Christen, die nach selbstgemachter Heiligkeit streben, fanatisch und verklemmt. Die Schwierigkeiten in Schule oder Beruf sind vorprogrammiert, werden aber als eine Verfolgung interpretiert, die jedem wahren Jünger Jesu nicht erspart bleibt, wenn er seinen Glauben ernst nimmt.

Je nach persönlicher Anlage, Vorgeschichte und der Wahl des Seelenführers variiert dieses Bild. In vielen Fällen bleiben Fehlentwicklungen aus, aber sobald ein Priester seine Macht mißbraucht, können solche Haltungen ein ganzes Leben zerstören.

Da möchte beispielsweise ein Beichtvater, die zu ihm kommenden jungen Frauen am liebsten alle in ein Kloster schicken. Die Stimme Gottes hat durch den Priester gesprochen, nur das ungehorsame Beichtkind sträubt sich noch. Schließlich gibt es nach. Trotz aller Zweifel hält man die junge Frau im Kloster mit der Versicherung, nur der Teufel versuche sie vom rechten Weg abzubringen. Dann treten psychische Probleme auf und die „Berufene“ wird plötzlich fallen gelassen.

Die meisten Klöster heute dulden derartige Mißstände nicht. Kennzeichen für ein Kloster im katholischen Geist sollten sein: 1) Junge Menschen, die aufgenommen werden, müssen eine Ausbildung gemacht haben oder erhalten eine im Kloster. Damit wird deutlich, daß der Mensch wichtig ist und nicht in falsche Abhängigkeiten gebracht werden soll. 2) Die Abgeschiedenheit von der Welt ermöglicht trotzdem den Kontakt nach außen. Wenn Briefe geöffnet werden oder ein Gespräch nie allein möglich ist, dann ist dies ein Zeichen für sektiererische Überwachung.

Am wichtigsten muß letztlich der Mensch sein, nicht eine Idee oder Sache. Fehlt die wahre Liebe, dann ist nicht mehr das Schicksal des Einzelnen entscheidend, sondern Seelen sind Apostolatsmaterial, das man spirituell einseitig formen will.

Angst: Es geht um das ewige Seelenheil. Wenn ein Beichtvater seinen Schützling oft genug fragt, warum er noch immer nicht im Kloster sei und ergänzt, daß eine solche Entscheidung maßgebend für eine ganze Ewigkeit sei, dann wird ein Druck aufgebaut, der sich verheerend auswirkt. Die Angst alles falsch zu machen, wenn man dem eigenen Willen folgt, läßt Menschen vollends von den Entscheidungen „ihres Priesters“ abhängig werden.

Endzeitängste können in konservativen Gruppen katastrophale Folgen haben. Immer wieder stürzen sich Christen auf die neuesten Offenbarungen. So sollte 1998 mit Sicherheit das große Chaos ausbrechen. A1s gegen Ende des Jahres nichts geschah, hieß es, daß alles um ein Jahr verschoben worden sei. Das ganze wäre nicht so schlimm, wenn nicht damit Druck ausgeübt und umgesetzt würde. Christen gehen nicht mehr wählen. Warum auch, wenn die Welt sowieso bald in einem Feuerregen untergeht? Lebensversicherung und Berufsausbildung werden zweitrangig. Manche Mütter ziehen von einem Wallfahrtsort zum anderen und vernachlässigen ihre Familien.

Konservative belegen Politik und Gesellschaft gern klischeehaft mit Verschwörungstheorien. Alles wird angeblich geheim und zentral gesteuert. Die ganze Welt läßt sich irreleiten, nur wenige haben das Spiel erkannt. Die geschürte Angst wirkt lähmend. Immer mehr ziehen sich die Opfer in eine selbstgemachte Welt zurück und verlieren den Sinn für die Wirklichkeit. Da die Offenheit fehlt, sich mit den Problemen anderer Menschen auseinander zu setzen, sondern nur stereotyp Parolen wiederholt werden, werden zwangsläufig Generationskonflikte verschärft.

Wie können Eltern ihre Kinder schützen?

Es wird nie möglich sein, den Kindern alle Gefahren aus dem Weg zu räumen. Dennoch ist es wichtig, die Probleme zu kennen und die Kinder charakterlich darauf vorzubereiten.

Jugendliche brauchen eine religiöse Heimat in der Familie, die von Liebe und Freiheit geprägt ist. Junge Menschen neigen zu Übertreibungen und Fanatismus. Nur wenn sie den Glauben auf nüchterne Weise kennen lernen, können sie die Parolen sektiererischer Strömungen entlarven.

„Eine fundierte Glaubensvermittlung muß als Gegenmittel für das Gift der Irrationalität dienen, ein gelebtes Beispiel gegen den Mißbrauch der Führungspersönlichkeit und die Erziehung zur Selbständigkeit gegen die Selbstaufgabe des eigenen Willens.“[3]

Viele konservative Gruppen können eine Hilfe für Kinder und Jugendliche sein, aber blind sollte niemand darauf vertrauen, daß nicht auch hier Gefahren drohen, die oft schwerwiegende Folgen haben.

 

[1] Michael Roos, „Flucht von der Teufelsinsel“, Kißlegg 1998, S. 110.

[2] ebd. S. 111.

[3] ebd. S. 133.

Zum Autor: Michael Roos, Jahrgang 1968, ist katholischer Priester. Veröffentlichte Jugendbücher:  "Die Spur der Finsternis", 1996, Aussaat-Verlag; "Das Geheimnis der Rose", 1998, fe-verlag; "Flucht von der Teufelsinsel", 1998, fe-verlag.